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Anregende Lektüre ohne Risiken, aber mit Nebenwirkungen. Rezeptfrei in Ihrem Internet. Machense sich doch schon mal frei.

Das ist die Fortsetzung meines Blogs, das ich Anfang 2020 mit Beginn der Corona-Krise weitgehend eingestellt habe – vor allem aus technischen Gründen, die Software lief nicht mehr zuverlässig. Seit Frühjahr 2023 hat es seinen Schlaf endlich beendet und erwacht hier zu neuer Schönheit. Die einzelnen Rubriken sind noch nicht alle wieder befüllt, das wird sich aber mit der Zeit ändern. Kommentare sind auf dieser Seite nicht möglich – wer etwas anmerken will, schickt mir einfach eine E-Mail. Respektvolle Mails beantworte ich gerne – ich achte andere Meinungen und setze mich gern damit auseinander. Pöbelige Schmährufe wandern jedoch sofort in den Papierkorb. Der Name "FrolleinDoktor" ist ein satirisch gemeinter Spitzname und stellt keinen Doktortitel oder medizinischen Status dar. 

 

Hommage an eine mutige Frau

Das Filmplakat
Freiheit statt Disziplinierung: Maria Montessori (Jasmine Trinca) hat verstanden, welche Schätze in den Kindern verborgen sind. © Neue Visionen Filmverleih
Die Französin Lili d’Alengy (Leïla Bekhti) hat ihre behinderte Tochter jahrelang versteckt, muss dann aber Verantwortung für sie übernehmen und kann sie in Maria Montessoris Institut unterbringen. © Neue Visionen Filmverleih
Partner, Liebende, Konkurrenten: Marias (Jasmine Trinca) und Giuseppes (Raffaele Esposito) Beziehung hat viele Gesichter, bis er sich den Konventionen beugt und eine fügsamere Frau Maria vorzieht. Damit entzieht er ihr auch die Arbeitsgrundlage in dem gemeinsamen Institut, und Maria muss ihren eigenen Weg finden. © Neue Visionen Filmverleih
Ein schicksalhaftes Bündnis: Zwischen Maria Montessori (Jasmine Trinca) und Lily d’Alengy (Leïla Bekhti) entsteht eine Freundschaft auf Augenhöhe. Lily verschafft ihr Zugang zur wohlhabenden Gesellschaft und damit zu Geldgebern für ihr eigenes Institut. © Neue Visionen Filmverleih

Am 7. März kommt ein neuer Spielfilm über Maria Montessori (1870–1952) in die Kinos. Er zeichnet ein sehr anderes Bild von dieser mutigen Frau als Sabine Seichter jüngst in ihrem Buch "Der lange Schatten Maria Montessoris - Der Traum vom perfekten Kind", mit dem sie in den Medien große Aufmerksamkeit erhielt. Darin wird Maria Montessori bezichtigt, Kinder nach ihrer Vorstellung perfektionieren zu wollen, auch im Sinne von Rassentheorie und Eugenik. Es sei dahingestellt, was an diesen Beschuldigungen wahr ist oder nicht – ich kann und will das hier nicht weiter vertiefen. Interessant ist dazu jedoch ein Beitrag auf der Bildungsplattform "News4teachers", wo Heiner Barz die Aussachen Sabine Seichters als "höchst einseitig und über weite Strecken falsch zu gespitzt" kritisiert. 

Zurück zum Film. Dieser zeigt eine Frau, die für ihre Mission brennt, mit behinderten Kindern anders umzugehen, als das in dieser Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts üblich war. Damals hielt man sie für "Idioten" und sperrte sie in „Irrenanstalten“ weg, wo sie in heute unvorstellbarer Weise vor sich hin vegetieren mussten. Maria Montessori, eine der ersten Ärztinnen Italiens, steht dagegen für eine menschliche Pädagogik, die das Kind in seinem So-Sein respektiert, es genau beobachtet und in seinen Fähigkeiten gezielt mit verschiedenen Methoden fördert. 

Um ihrer Arbeit nachgehen zu können, gibt Maria sogar den eigenen Sohn Mario schon als Baby in die Obhut einer Bäuerin. Er entstammt einer nicht legalisierten Verbindung mit ihrem Arztkollegen Giuseppe Montesano, mit dem zusammen sie ein pädagogisches Lehrerbildungsinstitut leitet, wo behinderte Kinder betreut werden. Die Lorbeeren für die dort angewandte erfolgreiche Pädagogik, für die sich jedoch nur wenige aus der Wissenschaft interessieren und ungläubig auf die Erfolge starren, heimst in der patriarchalisch orientierten Gesellschaft aber natürlich der Mann ein, nicht sie. Obwohl Maria Giuseppe liebt und er sie, ist sie nicht bereit zu heiraten – sie möchte niemandem gehören und sieht in einer Ehe nur Fesseln für die eigene Weiterentwicklung. Das war damals durchaus berechtigt, denn der Mann hatte zu dieser Zeit die absolute Verfügungsgewalt über seine Ehefrau. Maria möchte sich dem nicht unterwerfen. Trotzdem versucht sie immer wieder, Giuseppe davon zu überzeugen, Mario zu sich zu nehmen und den gesellschaftlichen Zwängen die Stirn zu bieten. Dazu ist Giuseppe jedoch nicht bereit, und auch Marias Eltern stellen sich quer. So bleibt Mario bei der Bäuerin, und die Mutter wird ihm mehr und mehr entfremdet. 

In der französischen Maitresse Lily d’Alengy, die eine behinderte Tochter hat, die sie lange Zeit versteckt hielt, dann aber in Montessoris und Montesanos Institut unterbringen kann, findet Maria schließlich eine Verbündete. Lily erlebt an der eigenen Tochter die segensreichen Wirkungen der Montessori-Pädagogik und eröffnet ihr über ihre Verbindungen in wohlhabende Kreise die Möglichkeit, ihre Methoden unabhängig von Montesano anzuwenden und ein eigenes Institut zu gründen. Für Maria ist das die Rettung, denn Giuseppe hat ihr inzwischen kurzerhand die Beziehung aufgekündigt und sich mit einer anderen Frau verlobt, die gefügiger ist. Maria geht ihren eigenen Weg, und zu ihrer Freude kehrt Mario als junger Mann zu ihr zurück und arbeitet künftig mit ihr zusammen in ihrem Institut. 

Ein opulent gemachter Film mit großartigen Schauspielerinnen, der einen anderen, sehr menschlichen Blick auf diese bedeutende Frau eröffnet.

Maria Montessori
Drehbuch und Regie: Léa Todorov
Kamera: Sébastien Goepfert
Kostümbild: Agnès Noden
Schnitt: Esther Lowe
Produzenten: Grégoire Debailly, Carlo Cresto-Dina, Valeria Jamonte, Ilaria Malagutti, Manuela Melissano

Trailer auf YouTube

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Der mit der Sau tanzt

Max Stiegl in seiner Gaststube im Gut Purbach am Neusiedler See in Österreich.
Ruhe vor dem Sturm: Noch sind die Sautanz-Gäste nicht eingetroffen, aber alles steht schon bereit. In den Kesseln dampft bereits das Wasser, mit dem die Sau später gebrüht wird.
Alles, was man zum Zerteilen braucht, liegt bereit.
Jeder Gast bekommt ein Glas in die Hand – für Wein, Bier, Punsch oder Wasser.
Der ganze Körper muss mit Saupech eingerieben werden, damit sich die Borsten lösen.
Das kochend heiße Wasser tut ein Übriges, damit sich die Borsten mit der "Sauglocke" leicht abschaben lassen.
Mit Hilfe von Ketten wuchten die Männer das Schwein hin und her, damit die gesamte Oberfläche mit dem heißen Wasser in Berührung kommt.
Sorgsam und mit Gefühl öffnet Michael Andert die Leibeshöhle. Der Penis des Ebers ist bereits freigelegt und baumelt über dem Bauch. Auch er kann später verspeist werden!
Ein durchaus ästhetischer Anblick: Der entnommene Dünndarm.
Der Dickdarm mit dem darüber liegenden Bauchnetz und den hauchfeinen Faszien – Wunder der Natur.
Zusammen mit einem Stück Brot sind die auf offenem Feuer erhitzten Blunzn (Blutwürste) das erste herzhafte Frühstück.
Aus einer der abgezogenen Klauen des Schweins wird der erste Slivovitz getrunken – dieses "Stamperl" hat genau die richtige Größe.
Ein andächtiger Moment: Max Stiegl hat das Herz entnommen und verteilt es in kleinen Stücken roh an seine Gäste.
Schon vorbereitet: Schweinehirn, das gleich zusammen mit Rührei, viel Majoran und Ajvar in der großen Pfanne gebraten wird.
Hirn mit Ei! Eine sehr feine Spezialität ohne jeden Igitt-Faktor. Man muss es nur mal probieren.
Schweinskopfsülze auf Toast mit Ajvar - lecker!
Schweinefleisch mit würziger Speckkrone vom Grill.
Der Grill kommt den ganzen Tag über nicht zur Ruhe. Immer wieder neue Stücke Fleisch werden darauf gebraten.
Michael Andert schneidet aus dem Filet feinsten Schweinetatar.
Währenddessen köcheln Ohren, Schwänze und diverse andere Fleischstücke zusammen mit ganzen Zwiebeln im großen Bottich über dem Feuer.
Frisch aus dem Ofen: der Krustenbraten. Dazu gibt es in Paprika fermentiertes Kraut.
Gesottene Schweineohren mit Ajvar und frischem Meerrettich – eine Delikatesse!
Auch Kohlenhydrate müssen sein: Frische Topfenknödel mit buttrigen Semmelbröseln!
Geduldig rührt Michael Andert die Speckwürfel – es dauert Stunden, bis das Fett ausgelassen ist.
Aus der Küche kommt ein riesiger Schinkenbraten - er war viele Stunden im Rohr und wird jetzt mit frischem Meerrettich serviert.
Vater und Sohn beim Fachsimpeln
Selbst den Rüssel kann man essen – frisch gegrillt und fein gewürzt.
Krönender Abschluss eines langen Tages: In frischem Schweineschmalz gesiedete Krapfen – mit einem Schuss Marmelade und Puderzucker ein großartiges Dessert.

Zu Besuch bei Max Stiegl und seinem „Sautanz“ im Burgenland. Ein archaisches Erlebnis. 

Es ist noch früh an diesem kalten Samstagmorgen Anfang Dezember. Halb acht. Gerade erst dämmert der Tag herauf aus dem trüben Hochnebel. Stille liegt über den Häusern. Nur in einem herrscht schon geschäftiges Treiben: im Hof von Gut Purbach, einem Gasthaus mit guter Küche und wenigen Zimmern zum Übernachten, betrieben von Sterne-Koch Max Stiegl. Schon seit dem 16. Jahrhundert ist der Hof ein Haus der Gastlichkeit, mitten in Purbach, einem 3000-Seelen-Dorf rund 60 km südöstlich von Wien am Neusiedler See im Burgenland gelegen, nahe der Grenze zu Ungarn. Seit 2007 hat Max Stiegl es zu einem Hotspot für Gourmets aus aller Welt ausgebaut. 

Die Betriebsamkeit am frühen Morgen hat ihren Grund: Seit fünf Uhr sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf den Beinen, um das Fest des Tages vorzubereiten: den Sautanz. Lichterketten schmücken die Ränder der Dächer, Scheinwerfer verströmen rotes Licht an die weißen Hauswände. Das schwüle Rot steht in seltsamem Kontrast zu den eisigen Temperaturen. Man fröstelt gleich etwas weniger. 

Wasser siedet in drei großen Kesseln über offenem Feuer. In einer großen Blechtonne glühen Holzscheite vor sich hin und erwärmen eine große flache Metallschale, in deren Mitte ein kleiner Kamin ausgespart ist, über den der Rauch entweichen kann. Gartenschirme spannen sich als Regen- und Schneeschutz über Tische, auf denen schon allerlei bereitliegt: ganze Batterien von Wein-, Sekt- und Bierflaschen, sorgsam gehütet von Laszlo, dem immer freundlich zugewandten Sommelier; dampfend heißer Früchtepunsch mit und ohne Alkohol; eingelegtes Gemüse, geriebener Meerrettich, gehäutete Paprika; eine Schüssel mit geschnetzelter Leber, ein ziseliertes Silbertablett mit Blutwürsten, daneben viele kleine Gläser mit Sülze; Messer aller Größen und Schärfen; ein langer hölzerner Rührlöffel, eine Säge, ein kleines Beil, ein Sieblöffel. Und dann noch zwei Tütchen mit hellem Pulver. „Saupech“ steht darauf. Saupech? Nie gehört. 

Direkt hinter dem großen Scheunentor, dem Eingang zum Gut, poliert eine Mitarbeiterin Weingläser und stellt sie auf einem großen Holztisch bereit, aufmerksam beobachtet von einem ausgestopften Pferdekopf mit einem dekorativen Hütchen auf den Ohren. Es sind viele Gläser. Denn man erwartet Gäste. Viele Gäste. Eine erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft. 

Punkt acht Uhr trudeln die ersten ein, bekommen ein rotes Band mit der Aufschrift „Sautanz“ ums Handgelenk. Rasch füllt sich der Hof. Und kurz nach acht ist es soweit: die Menge, inzwischen auf ca. 150 Personen angewachsen, drängt zum hinteren Ausgang. Und siehe: Da kommt sie, die Sau. Vor wenigen Minuten erst, mitten aus einem glücklichen Schweineleben heraus auf der nahegelegenen Weide geschossen und abgestochen, das Blut – ca. anderthalb Liter – ist bereits gerührt (damit es nicht gerinnt) und in einem Eimerchen mit Deckel bewahrt. Vom Anhänger, der es nach Purbach gebracht hat, rutscht das korpulente Tier in den bereitgestellten traditionellen Holztrog und wird mit vereinten Kräften in den Innenhof gewuchtet. 

Und jetzt zeigt sich, wofür das Saupech gut ist: Helfende Hände streuen das kieferharzhaltige Pulver über das Tier und reiben es kräftig von allen Seiten in die Borsten, bevor das im Hof in den großen Bottichen erhitzte, kochend heiße Wasser über die Sau gekippt wird. Über zwei Ketten wird der schwere Körper immer wieder durch das Wasser gezogen, damit er auch wirklich überall benetzt ist. Eine Knochenarbeit ist das. Nicht ungefährlich dazu, denn das heiße Wasser schwappt dabei gerne mal über den Rand. Und dann muss es schnell gehen: Mit der „Sauglocke“, einem kleinen Metallkegel, werden die durch das Harz verklebten Borsten abgeschabt. Zum Schluss liegt das Schwein rosig im trüben Wasser. Der erste Slivovitz macht die Runde. Aber nicht in einem Schnapsglas, sondern in den acht von den vier Schweinepfoten abgeknipsten Klauen – Stamperl der besonderen Art und für die, die eines ergattert haben, eine spezielle Trophäe. Und damit der Schnaps nicht auf leeren Magen trifft, hat Max Stiegl zuvor schon Blutwurst – in Österreich Blunzn genannt – aus einer früheren Schlachtung über dem offenen Feuer gebraten, und jeder bekommt ein Stück davon ab. Breakfast is served! 

Eine jahrhundertealte Tradition
Der „Sautanz“ ist eine alte Tradition, nicht nur im Burgenland, sondern in vielen Ländern Europas. Der Name ist durchaus doppeldeutig: zum einen ist es eben ein Schlachtfest, bei dem zu Live-Musik durchaus auch mal getanzt wird, zum anderen zappelt das Schwein beim Abstechen. Seit die EU jedoch ihre seltsamen Regeln erlassen hat, sind Hausschlachtungen vielerorts nur noch mit Ausnahmegenehmigungen möglich. Bis dahin war es jahrhundertelang Brauch, im November oder Dezember ein Schwein zu schlachten, als Fleisch- und Fettvorrat für den Winter. Vom Ringelschwanz bis zum Rüssel wird dabei alles verwertet – gekocht, geräuchert, gebraten, gepökelt, eingeweckt, ausgelassen, verwurstet. 

Max Stiegl veranstaltet solche Sautänze schon seit 2007. Eigentlich heißt er nicht so, der Max. Als Željko Raškovic wurde er 1980 in Slowenien geboren und kam mit seinen Eltern knapp zehn Jahre später nach Österreich. Schon als 16-Jähriger entschied er sich für eine Kochlehre. Sein erster Chef, Günther Abfalter in Golling im Salzburgerland, nannte ihn der Einfachheit halber Max, den Nachnamen verdankt er seiner Vorliebe für Stiegl-Bier. So war „Max Stiegl“ geboren, kurz und knackig, leicht zu merken. 2007 vertraute ihm der inzwischen verstorbene Wiener Rechtsanwalt Hans Bichler das Gut Purbach an, das Max Stiegl seither erfolgreich führt. Es ist mit einem Stern beim Guide Michelin und vier Hauben bei Gault & Millau ausgezeichnet. 2020 verlieh ihm Gault und Millau Österreich den Titel „Koch des Jahres 2021“. Derlei Lametta ist Max Stiegl allerdings herzhaft wurscht: „All diese Auszeichnungen braucht man so dringend wie Hämorrhoiden“, sagte er 2021 in einem Interview mit dem SZ-Magazin. „Ich wurde auch ‚Bierwirt des Jahres‘ und trinke keinen Alkohol. Mir sind solche Titel komplett egal.“ 

Viel wichtiger ist ihm, dass die Menschen verstehen, dass man von einem geschlachteten Tier alles, wirklich alles essen soll und kann – man muss es nur schmackhaft zubereiten. Und so kommen bei Max Stiegl nicht nur Innereien auf den Tisch, von Hirn über Herz, Zunge, Leber und Nieren bis zu Hoden, sondern auch Tiere aller Art. Biber zum Beispiel. Ein übrigens rein vegan lebendes Tier. Wenn Biber in der Natur überhand nehmen (was auch hierzulande vorkommt), werden sie normalerweise geschossen und entsorgt. Darüber kann der Max sich mächtig echauffieren: „Ich finde es sinnlos, dass man ein Stück Fleisch mit 40, 50 Kilogramm, ein Lebewesen, erlegt und wegwirft, und dann essen wir Fleisch aus Argentinien oder Brasilien. Das verstehe ich nicht.“, sagt er in einem Interview, das Anja Wasserbäch Anfang Dezember 2023 für die Stuttgarter Zeitung mit ihm geführt hat. Auch gegen die Verwertung von einheimischen Vögeln wie Schnepfe, Eichelhäher und Star hat er nichts – wenn sie in der Natur im Übermaß vorkommen. Nur eines hasst er: die Massentierhaltung. Nie würde er ein Tier aus nicht artgerechter Aufzucht verarbeiten. Nie. 

Auch deshalb pflegt Max Stiegl die Tradition des Sautanzes. Mit Erfolg. Das Interesse ist groß, nicht nur in Österreich: „Auf jeden Termin gibt es gut 1000 Anmeldungen“, sagt er. Jeder Sautanz dauert von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends. Mehr als 150-180 Leute passen nicht in den Hof, die Teilnehmerzahl ist deshalb begrenzt. Für 180 Euro gibt es dafür nicht nur das einmalige Erlebnis, zuschauen zu können, wie ein Schwein komplett verarbeitet wird, sondern es gibt auch den ganzen Tag über Essen und Trinken satt. Auf eines weist Max Stiegl jedoch schon gleich zu Beginn hin: Betrunkene werden des Hofes sanft, aber nachdrücklich verwiesen. Der Sautanz soll kein Besäufnis sein. Man zeigt Respekt nicht nur dem Tier gegenüber, sondern auch im Umgang untereinander und miteinander. Der in Österreich durchaus weitverbreitete Standesdünkel ist hier fehl am Platz. Weshalb alle sich duzen, ganz egal, woher sie kommen und wie viele Titel sie angehäuft haben. 

Zehn bis fünfzehn Sautänze veranstaltet Max Stiegl pro Saison, die bis Ende Januar reicht. Meist macht er das zuhause im Gut Purbach, aber er tourt auch zu anderen Orten, sofern seine Bedingungen erfüllt sind. Geschlachtet werden grundsätzlich nur Tiere, die artgerecht gehalten wurden. 

Nichts für schwache Nerven
Im Hof von Gut Purbach ist die Sau inzwischen von allen Borsten befreit, nur der Kopf wurde ausgespart. Schweinchenrosa im wahrsten Sinne des Wortes liegt das mächtige Tier im Holztrog. Jetzt gilt es, den ca. 230 kg schweren Körper mit den Hinterläufen an ein großes Holzgestell zu pflocken. Dafür präpariert Michael Andert, Winzer aus Pamhagen an der österreichisch-ungarischen Grenze, ein erfahrener Sautänzer und langjähriger Freund Max Stiegls, eine starke Sehne frei und schlitzt das Schwein zwischen den Beinen etwas auf, damit die Haxen gespreizt werden können und das Gewicht sich besser auf den Balken verteilt. Vier starke Männer sind nötig, um das Gestell mit der Sau aufzurichten. Da darf nichts schiefgehen, sonst landet das Tier mitsamt den Kerlen im Kies. Heute klappt alles – die Sau hängt und ist schlachtbereit. 

Erst jetzt setzt Max Stiegl das Messer an und teilt die Schwarte vom Einschnitt an den Schenkeln bis zur Brust. Michael Andert übernimmt und schlitzt die Sau weiter auf. Wobei sich zeigt: Es ist gar keine Sau, es ist ein Eber. Zartfühlend wird der verschrumpelte Penis freigelegt und baumelt nun an einem langen Strang über dem Bauch. Mit viel Gefühl und Sorgfalt, fast zärtlich, teilt Mike, wie ihn hier alle nennen, Fett, Fleisch und Faszien, bis die Eingeweide freiliegen. Ein Beil spaltet die Knochen am Becken weiter auf, damit das Gekröse sich besser herausziehen lässt. Der ausgelöste Darm wandert mitsamt dem Magen in einen Metalltrog, ebenso das gespinstartige Bauchnetz, das später als fetthaltige Hülle für Braten oder andere Gerichte dient. So freiliegend entfaltet das Gedärm eine eigenartige Schönheit – ein feines Netz aus Blutgefäßen durchzieht die äußere Haut des Dünndarms, die gekammerten Wülste des Dickdarms verbinden feinste Häute und fettgepolsterte Sehnen. Es ist überhaupt nicht igitt, sondern offenbart eine staunenswerte Ästhetik. 

Vorsicht ist geboten, wenn die Leber freipräpariert wird: Verletzt man dabei die Gallenblase mit ihrem bitteren Inhalt, kann man das Organ verwerfen. Heute geht alles gut. Neben die Leber hängt Michael nun auch die Lunge an einen der Holzpflöcke des Saugalgens (später wird daraus das in Bayern und Österreich beliebte, säuerlich zubereitete „Beuscherl“). 

Und dann schiebt Max Stiegl, der schon ungeduldig auf diesen Moment gewartet hat, den ganzen Arm in die jetzt voll eröffnete Leibeshöhle. Sein Ziel ist das Herz. Noch warm liegt es dampfend in seiner Hand. Er setzt das Messer an und schnippelt das Organ in kleine Stückchen, die er ringsum an die Gäste verteilt. Anfangs aus der Hand, später legt er das Herz auf das von ihm 2018 im Servus-Verlag publizierte Kochbuch „Sautanz“ und zerteilt es dort weiter. Es mutet an wie ein kleiner Altar: sein von Herzblut verschmiertes Buch, von ihm mit Herzblut verfasst, als Tribut an das Schwein, das sein Leben gegeben hat, um Menschen zu sättigen. Allerdings – ich geb’s zu – kostet es schon ein bisschen Überwindung, dieses noch warme Stückchen Herzmuskel zu essen. Nicht, weil es schlecht schmecken würde – ganz im Gegenteil, es hat eine feine, nussige Note und ist unglaublich zart. Es ist mehr das Bewusstsein, dass wir hier das Zentralorgan eines Tieres verkosten, das vorhin noch über die Wiese gelaufen ist und sich im Schlamm gesuhlt hat. 

Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen 
Für nachdenkliches Grübeln bleibt jedoch nicht viel Zeit, denn Max Stiegl läuft jetzt zu Hochform auf: Es gibt die erste Innerei zu essen: Hirn mit Ei. Wie bitte? Schweinehirn? Jawohl. Allerdings nicht von dem gerade geschlachteten Tier, sondern aus einem hohen Glas, in dem ca. 35 Schweinehirne schwimmen. Um zwölf Stunden lang 150 bis 180 Gäste zu versorgen, würde das eine Schwein nicht ausreichen, und die Zubereitung würde auch zu lange dauern. Deshalb gibt es bei jedem Sautanz diverse kulinarische Köstlichkeiten, die Max schon vorbereitet hat. Das Hirn gehört dazu, die später servierte in kleinen Stücken gebratene Leber, der riesige Schinken, der schätzungsweise acht bis zehn Stunden im Rohr war, und manches mehr. 

Jetzt also erstmal Hirn mit Ei. Die etwa faustgroßen Schweinehirne fallen zischend auf die heiße, in drei Sektoren geteilte Metallplatte, die von unten über ein Holzfeuer erhitzt wird. Aus einer großen Schüssel wird das schon geschlagene Rührei dazu gekippt und großzügig mit Salz, Pfeffer und – unverzichtbar! – Majoran gewürzt. Noch ein Schuss Ajvar dazu, dieses delikate, von Max Stiegl natürlich selbst zubereitete Püree aus Paprika, Auberginen und Peperoni, eine slawische Spezialität. Es schmeckt es vorzüglich. 

Und so geht es den Tag über weiter. Die Helferinnen und Helfer sind immer in Aktion, ebenso der Chef, an dem ein Conférencier verlorengegangen ist. Über ein Headset und am Eingang aufgestellte große Lautsprecher bespaßt er seine Gäste unermüdlich von früh bis spät. Diese probieren sich durch Sülze, Würste, Rippchen, Speck, durch geröstete Leber, geschmortes Herz in Rahm, saure, im Ganzen gegrillte Nierchen, gebratenes Bauchfleisch, von würziger Speckschicht gekrönte Koteletts und zartes Filet. Sie knabbern mit Ajvar und frisch geriebenem Meerrettich überzogene Stücke vom Schweineohr, sie probieren geschnittenen Tatar, sie knuspern krachend die Schwarte vom Braten und nähern sich neugierig sogar dem Rüssel auf dem Grill. Fast wie eine Erlösung von all dem Fleischgenuss wirken zwischendurch die Topfenknödel mit wunderbar buttrigen Semmelbröseln – sie zergehen auf der Zunge.

Dass es mittlerweile zu schneien begonnen hat, stört hier niemand. Wird man eben ein bisschen nass, na und? Das gute Essen, die feinen Weine und die heitere Stimmung halten warm – von innen. 

Ohren, Schwänze und diverse Fleischstücke garen mit Suppengemüse und ganzen Zwiebeln in großen Kesseln über offenem Feuer – Kesselfleisch nennt man das. Es wird viele Stunden später deftig mit Knoblauch und – natürlich! – Majoran gewürzt serviert. Ebenso der von fleißigen Händen in viele kleine Würfel geschnittene Speck, der in einem riesigen Bottich ausgelassen wird und die begehrten „Grammeln“ hervorbringt. Durch eine Kartoffelpresse gedrückt und somit vom meisten Fett befreit sowie mit Salz und Knoblauch bestreut, sind sie eine köstliche Knusperei zum x-ten Glas Ruländer, Zweigelt, Blaufränkisch oder Welschriesling. Ein Teil des Specks wird mit Kräutern eingelegt und ergibt später Lardo – hauchdünn aufgeschnitten eine aromatische Delikatesse. Das Schwein am Galgen wird derweil immer weniger – Stück für Stück wandern die Einzelteile auf die Verarbeitungstische oder in die Küche. Zum Schluss ist nur noch der Kopf übrig. 

Aus der Küche kommt inzwischen die fertig zubereitete Blutwurstmasse zurück und muss jetzt noch in die Därme gepresst werden – eine Arbeit, die viel Fingerspitzengefühl erfordert. Diese Blunzn werden nur teilweise heute noch verspeist – die meisten wandern in den Vorrat für den nächsten Sautanz. 

Den Abschluss bilden die im mittlerweile voll ausgelassenen Schweineschmalz gebackenen Krapfen aus Hefeteig. Ein Schuss Marmelade wird ihnen noch verpasst und Puderzucker – und dann wandern sie in die schon wieder aufnahmebereiten Bäuche der Gäste. 

Am Abend sind alle ebenso satt wie erschöpft – um 20 Uhr ist Schluss mit dem Sautanz, denn die Aufräumarbeiten werden noch einige Zeit in Anspruch nehmen, schließlich ist am nächsten Tag wieder normaler Gästebetrieb auf Gut Purbach. 

Kritik bleibt nicht aus 
Natürlich stößt so ein Ereignis nicht auf ungeteilten Beifall. Manch einer hat in Bewertungen im Internet bemeckert, dass man den ganzen Tag nur habe rumstehen müssen (was nicht stimmt, man kann sich in der Gaststube hinsetzen, und auch im Eingangsbereich sind Sitzgelegenheiten vorhanden), dass der Sautanz ein nur auf Effekt bedachtes Event sei, dass man doch eher weniger Fleisch essen sollte, und was man sonst noch so alles ins Feld führen kann. 

Nun – wer sich ein bisschen schlau macht, weiß vorher, was ihn hier erwartet. Keiner muss sich das antun. Wer kommt, tut dies freiwillig. Und ja klar ist das auch ein Event, eine Party, ein Stelldichein. Es ist kein traditionelles Schlachtfest, und doch ist es eines. Weil es anknüpft an eine alte burgenländische Tradition. Und weil es mit einem aufrichtigen Anliegen verbunden ist. Das Event, die Party, ist der Transmissionsriemen, mit dem Max Stiegl den Menschen nahebringt, wie gut gerade die Teile vom Tier schmecken, denen man sich sonst nur zögerlich, mit großem Vorbehalt oder gar nicht nähert. Der Gruppeneffekt ist dabei bewusst einkalkuliert: Wenn einer sich traut, trauen sich auch die anderen … Beim Sautanz kann man alles probieren – und weglassen, wozu man keine Lust hat oder was einem zuwider ist. Und doch: Probieren geht über studieren. Es ist DIE Chance, Neues zu wagen, sich Gerichten anzunähern, von denen man bislang nur mit schaurigem Gruseln gehört hat. 

Max Stiegl ist dabei ein begnadeter Menschenfänger und Unterhalter. Vor allem aber ist er ein immer aus vollem Herzen um das Wohl seiner Gäste bemühter Wirt. X-mal fragt er zwischendurch, ob es allen gut geht, ob sie genug zu essen und zu trinken haben (und isst selbst kaum etwas während des Tages, Alkohol konsumiert er ohnehin nicht). Die Zusammenarbeit mit den vielen helfenden Händen funktioniert reibungslos, nie hat man das Gefühl, dass hier einer kommandiert und alle müssen spuren. Es ist vielmehr ein gemeinsames Zusammenwirken auf Augenhöhe. Mit jeder und jedem. Sogar mit dem Stiegl-Nachwuchs – die drei Söhne helfen bereits mit großem Eifer mit und werden zwischendurch immer wieder liebevoll in den Arm genommen. 

Es ist diese Haltung, die so einen Sautanz so wertvoll macht: den Menschen von heute wieder bewusst zu machen, dass man nichts wegwerfen muss von einem Tier, das ohnehin hat sterben müssen. Auch nicht die Blase, die Max Stiegl für sein inzwischen berühmtes „Huhn in der Blase“ verwendet – ein in der Schweinsblase gebratenes und deshalb wunderbar saftig bleibendes Federvieh. Dass es nur auf die richtige Zubereitung der jeweiligen Teile ankommt, die gar nicht so schwer ist und auch nicht besonders raffiniert sein muss. Dass man nicht jeden Tag Fleisch auf dem Teller haben muss, sondern sich lieber mit weniger begnügt, dies aber in bester Qualität. 

In diesem Sinne ist Max Stiegl durchaus eine Art Missionar. Aber einer, der seinen Gästen alle Freiheit lässt. Niemand muss bei ihm essen. Veganer brauchen sich gar nicht erst auf den Weg zu machen. Aber wer es tut, wird sehr gut und mit aller Aufmerksamkeit bewirtet. Auch an ganz normalen Tagen in seinem Restaurant oder als Übernachtungsgast in seinem Boutiquehotel (und wer dort nicht mehr unterkommt, wird an eine der privaten Unterkünfte in Purbach vermittelt). Das Burgenland mit seinen Weingütern und seiner sanften Landschaft ist ohnehin immer eine Reise wert. 


Die nächsten Sautänze finden am 6., 20. und 27. Januar 2024 auf Gut Purbach statt und dann wieder im November 2024. Im Oktober 2024 gibt es „Sautanz on Tour“ im Grafengut am Attersee im Salzkammergut und im Bio-Hotel Walserstuba in Riezlern im Kleinen Walsertal. Das Buch „Sautanz“ ist erschienen im Servus-Verlag und kann für 25 Euro direkt bei Max Stiegl bestellt werden. 

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Der Tausendsassa unter den Brotbackbüchern

Lutz Geißler ist allen Hobbybäckern bestens bekannt: Er gilt als der "Brotpapst" schlechthin, sein "Plötzblog" gehört zu den ergiebigsten Quellen für Brotrezepte und überhaupt für Informationen rund um Brot und Brötchen aller Couleur. Vor kurzem hat Lutz, dessen Bücher allesamt Bestseller sind, nun ein geniales neues Werk publiziert: "Die neue Brotbackformel". Es ist eine Art Tausendsassa unter den Brotbackbüchern, denn es passt sich den jeweiligen Möglichkeiten auf ideale Weise an. Denn wer kennt sie nicht, die Situation, dass man mit Schrecken feststellt: Kein Brot mehr im Haus. Oder: Das, was noch da ist, ist verschimmelt. Für solche Fälle weiß Lutz Geißler Rat: Aus einem Grundteig - wahlweise mit hellem, dunklem Weizenmehl, Dinkel- oder Vollkornmehl angesetzt - lassen sich 50 verschiedene Brotsorten backen. Da ist wirklich für jede Gelegenheit etwas dabei – leicht und luftig oder kräftig-herzhaft, süß, neutral oder salzig. 

Da - ausnahmsweise - nicht mit Sauerteig gearbeitet wird (was sonst Lutz' Leidenschaft ist), eignet sich dieses Buch gerade für Neueinsteiger, die noch nicht viel Erfahrung mit dem Brotbacken haben. Mehl und Hefe (ob getrocknet oder frisch) sollte man ohnehin immer im Haus haben. Und selbst gebackenes Brot schmeckt einfach besser als das industriell hergestellte (Bäcker, die ihr Brot handwerklich sauber noch selbst backen, kann man in Deutschland ohnehin mit der Lupe suchen). 

Das Buch ist modular aufgebaut, so dass man auf der Basis eines Grundteiges je nach Lust und Laune und zeitlichen Möglichkeiten viele verschiedene Brote und Brötchen bis hin zu Süßigkeiten und Flammkuchen backen kann. Die Schritt-für-Schritt-Anleitungen mit vielen Fotos machen es auch Unkundigen einfach, ein gutes Ergebnis hinzubekommen. Schon beim Durchblättern bekommt man sofort Lust, eines der vielen Rezepte nachzubacken. Dieses Buch sollte in keiner Küche fehlen. 

Lutz Geißler: Die neue Brotbackformel
288 Seiten, Hardcover, 34 Euro
direkt bestellen beim Becker, Joest, Volk Verlag

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Geschichte einer langen Liebe

Das Plakat zum Film
Eva und Dieter 1953 (c) Foto Eva und Dieter Simon
Eva und Dieter 1954, (c) Foto Eva und Dieter Simon
Eva und Dieter auf der Terrasse ihres Hauses, (c) Foto Julia Sellmann
(c) Foto Julia Sellmann
Die Regisseurin Pia Lenz, (c) Foto Henning Wirtz

Ein bewegender Film kommt am 23. November in die Kinos: "Für immer". Es ist die Dokumentation der letzten Jahre eines betagten Ehepaars, beide sind bereits über 80 Jahre alt. Von 2018 bis 2023 begleitete Pia Lenz Eva und Dieter Simon, die im Süden Hamburgs am Rande der Großstadt in einem idyllisch mitten im Wald gelegenen Haus leben. Sie meldeten sich auf eine Zeitungsannonce hin und waren bereit, sich von Pia Lenz über fünf Jahre hinweg filmen zu lassen. Es ist die berührende Geschichte einer langen Liebe, die durch viele Höhen und Tiefen gegangen ist, getragen von wechselseitigem Verständnis, aber auch immer wieder auf die Probe gestellt von zwei durchaus selbstbewussten Individualitäten. 

Im Winter 1952 tanzen Eva und Dieter das erste Mal miteinander, schüchtern, vorsichtig. Sie heiraten, bauen ein Haus, bekommen drei Kinder, verkraften gemeinsam den Unfalltod der zweiten Tochter, streiten sich und vertragen sich wieder, gehen fremd und verzeihen einander. So sind sie gemeinsam alt geworden. Eva ist inzwischen gebrechlich geworden, eine Lungenkrankheit und andere Probleme machen ihr zu schaffen. Ihre Kräfte schwinden zusehends, und Dieter kann nichts dagegen machen, nur unterstützen, helfen, sich kümmern. Und zusehen, wie seine Partnerin langsam immer schwächer wird, bis sie 2022 stirbt – zu Hause. Er bleibt allein zurück. 

Wie Pia Lenz diese Partnerschaft zeichnet, in ihren verschiedenen Etappen und Schattierungen, das ist sehr besonders – vor allem ist es nie voyeuristisch. Ungemein einfühlsam nähert sie sich diesen beiden alten Menschen, ihren Schrullen und Stärken, ihrer Lebensgeschichte, die durch Tagebucheintragungen auch noch Jahrzehnte nach dem jeweiligen Geschehen lebendig wird. Eva ist die Gesprächigere von beiden – sie reflektiert die gemeinsamen Jahre mit aller Ehrlichkeit und Offenheit, derer sie fähig ist, und sie lässt auch die eigenen Fehler nicht aus, die Unzufriedenheit mit der Rolle als Hausfrau und Mutter, aus der sie verschiedentlich ausbricht. Dieter, Architekt von Beruf, vergräbt sich immer wieder in seine handwerklichen Leidenschaften, werkelt am Haus und im Garten, baut sich und der Familie ein Nest, das zum Rückzugsort wird gerade in diesem hohen Alter. 

"Für immer" ist ein Film, den sich jedes Paar anschauen sollte – es lässt sich so viel daraus lernen. Vor allem dies: Dass eine große Liebe durch alle Täler und Schicksalsschläge trägt, dass diese Liebe aber auch immer wieder gehegt und gepflegt werden will, wenn sie diese dauerhafte Tiefe erreichen soll. 

 

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Wichtige Vorkämpferinnen

Wenn es um die Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geht, werden meistens nur Männernamen genannt: Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler, Theodor Heuss als erster Bundespräsident sowie die verschiedenen "Väter" des neugeschaffenen Grundgesetzes. Dass sowohl an dieser Gesetzgebung als auch bei der Entwicklung der Republik in hohem Maße auch Frauen beteiligt waren, wird nicht so oft ins Bewusstsein gerückt. Diese Lücke schließt jetzt ein Buch, das allerdings keine Frau, sondern ein Mann erstellt hat: "Die Pionierinnen" von Rainer Hank.

Der 1953 geborene Wirtschaftsjournalist, der von 2001 bis 2018 das Wirtschafts- und Finanzressort der FAZ geleitet hat und heute für verschiedene Medien tätig ist, widmet sich dabei vor allem den Journalistinnen, die in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg den Blick auf die Welt geprägt haben: die langjährige FAZ-Redakteurin Helene Rahms (1918 – 1999); Marion Gräfin Dönhoff (1909 – 2002), die legendäre Chefredakteurin und spätere Herausgeberin der ZEIT, die Rainer Hank mit kritischer Distanz beschreibt; Clara Menck (1901 – 1983), Kulturjournalistin; Margret Boveri (1900 – 1975), die als Korresponentin durch die Welt reiste und sich gegen die westliche Orientierung in Nachkriegsdeutschland stemmte; Hilde Spiel (1911 – 1990); Elisabeth Noelle-Neumann (1916 – 2010), die das bekannte Meinungsforschungsinstitut gründete und aufbaute; Inge Deutschkron (1922 – 2022), die als Jüdin in der Illegalität das 3. Reich überlebte und später Korrespondentin der israelischen Zeitung "Ma'ariv" war; Julia Dingwort-Nusseck (geb. 1921, zu ihr gibt es ein interessantes Portrait im WDR) und Fides Krause-Bewer (1919 – 2018), beide Pionierinnen des Wirtschaftsjournalismus im Fernsehen; Maria Frisé (1926 – 2022), die sich im männerdominierten Feuilleton der FAZ durchkämpfen musste und für den Autor seine "journalistische Lehrerin" war, sie war es, die den Anstoß zu diesem Buch gab; Sybil Gräfin Schönfeldt (1927 – 2022), die mit ihren klugen und geistreichen Benimm- und Kochbüchern sowie ihren Kalendern eine neue Qualität in die Frauenmagazine getragen hat, die ebenso leichtfüßig wie tiefgründig war (was nur ein scheinbarer Gegensatz ist); Christa Meves (geb. 1925), die wegen ihrer konservativen Kindererziehungsansichten oft als Reaktioinärin verpönte Autorin, die mit untrüglicher Sicherheit die Finger in viele Wunden legte; und natürlich Alice Schwarzer (geb. 1942), die Feministin, die die Frauenbewegung der 1970er und 80er Jahre angeschoben und geprägt hat. 

Viele andere bleiben unerwähnt - sowohl aus Platzgründen wie auch mangels Unterlagen: Ursula von Kardorff, Isabel Mühlfenzl, Franca Magnani, Wibke Bruhns, Carmen Thomas, Elly Staegmeyr, Hannelore Krollpfeiffer, Ulrike Meinhof, um nur einige zu nennen. Nur von wenigen der portraitierten Frauen liegen Biographien vor – viele sind noch ungeschrieben, und viele andere, genauso wichtige Journalistinnen und (Chef)Redakteurinnen blieben unerwähnt (darunter auch die ersten Chefinnen der Frauenzeitschriften "Constanze" und "Brigitte", die noch bis zu Beginn dieses Jahrhunderts mit ihren hohen Auflagen bei Frauen meinungsbildend waren). Hank widmet sich vor allem denjenigen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben, mithin also zwischen 1900 und 1935 geboren wurden (nur Alice Schwarzer ist jünger). Er stützt sich dabei sowohl auf das Archiv der Publikationen, für die die Journalistinnen gearbeitet haben, als auch auf Unterlagen aus dem Literaturarchiv in Marbach sowie auf Gespräche mit Angehörigen. 

Es sind Lebensgeschichten von Frauen, die unzählige Widerstände überwinden und sich in für sie völlig ungewohnten Umständen bewähren mussten. Frauen, die – meist noch nach alter Sitte als schmückendes Beiwerk und Steigbügelhalterin für einen Mann erzogen – auf sich selbst und ihre eigene Tatkraft und Phantasie angewiesen waren. Die gegen Vorurteile ankämpfen und mindestens doppelt so gut sein mussten wie Männer, um überhaupt bestehen zu können. Die nicht Hausfrau und Mutter sein, sondern die Gesellschaft mit beeinflussen und formen wollten.

Ihr Anteil an der journalistischen Landschaft im Nachkriegsdeutschland ist kaum bekannt und wird auch an den Journalistenschulen – soweit ich weiß – nicht gelehrt. Dabei stehen wir alle, die wir in den 1980er Jahren und später unsere berufliche Karriere gestartet haben, auf den Schultern dieser Frauen. Es ist Rainer Hanks großes Verdienst, uns das mit diesem Buch endlich ins Bewusstsein gerückt zu haben. "Die Pionierinnen" ist ein Buch, das alle gelesen haben sollten, die im Journalismus heute tätig sind. Wirklich alle. Auch die Männer. Gerade diese. 

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